Demokratie & Gerechtigkeit

Nach wie vor schwächen Europas Regierungen die Demokratie: EU Rule of Law Report von 45 NROs

Der Liberties Rule of Law Report 2023

by Israel Butler

In einer Demokratie bestimmen wir, wie unsere gewählten Vertreter*innen ihre Befugnisse und Ressourcen nutzen, denn wir sind es, die sie ihnen übertragen haben. Wenn die Bürgerinnen und Bürger das Sagen haben, können wir von unseren Politikern verlangen, dass sie das tun, was für uns alle am besten ist. Unser Bericht zeigt jedoch, dass die Regierungen der EU-Staaten es den Bürgerinnen und Bürgern auch im letzten Jahr wieder schwerer gemacht haben, ihre Politikerinnen und Politiker dazu zu bringen, in ihrem besten Interesse zu handeln.

2022 waren die Folgen des russischen Einmarsches in der Ukraine für alle spürbar, genau wie die Klimaschäden, die wir durch das Verbrennen fossiler Brennstoffe verursachen. Die Heizkosten und die Ausgaben für die Ernährung unserer Familien stiegen so viel schneller als die Löhne und Gehälter, dass sich viele Menschen zwischen einem warmen Zuhause und einer gesunden Ernährung entscheiden mussten. Überschwemmungen, Waldbrände, Hitzewellen, Stürme und Dürreperioden haben unsere Gesundheit, die Wasser- und Lebensmittelversorgung und die Sicherheit unserer Wohnorte bedroht.

Dieser Bericht beurteilt nicht, inwiefern die EU-Regierungen bei ihren Entscheidungen, wie sie auf diese Ereignisse reagieren, im besten Interesse ihrer Bürgerinnen und Bürger gehandelt haben. Der Bericht stellt jedoch fest, dass es auch 2022 in vielen EU-Ländern für die Bürgerinnen und Bürger immer schwieriger wurde, bei der Bewältigung der Probleme mitzureden und die von uns gewünschten Lösungen einzufordern. Manchmal scheint dies ein bewusster Versuch zu sein, die Bürgerinnen und Bürger von ihren Demokratien auszuschließen. Entweder, indem die Regeln und Organisationen, die das Funktionieren der Demokratie gewährleisten, geschwächt werden, oder indem man sich weigert, Mängel zu beheben, die die Regierungen in der Vergangenheit selbst geschaffen haben.

Damit die Demokratie richtig funktioniert, sind die Bürgerinnen und Bürger auf verlässliche Informationen angewiesen und dafür brauchen sie gute Medien. Sie müssen in der Lage sein, ihre Anliegen vorzubringen - sei es durch das Engagement von Organisationen und Vereinen oder durch gemeinsame Protestkundgebungen - und die Regierungen müssen bereit sein zuzuhören und zwar auch, indem sie ihre Bürgerinnen und Bürger konsultieren, wenn sie neue Gesetze erlassen. Und wenn Politiker*innen nicht in unserem besten Interesse handeln, indem sie zum Beispiel unsere Freiheiten beschneiden, Hass verbreiten um sich politisch zu bereichern, oder unsere Ressourcen für sich selbst beanspruchen, brauchen die Bürger*innen unabhängige Mechanismen, um die Situation zu bereinigen, wie eine Ombudsperson oder ein Gericht, das einfach anzurufen ist und schnell eine Entscheidung trifft.

Das sind die Hebel, die in den Händen der Bürgerinnen und Bürger liegen sollten, damit die Demokratie für uns als Regierungssystem funktioniert. Auch im Jahr 2022 haben viele Regierungen sie geschwächt oder mindestens vernachlässigt.

Die schlimmsten Übeltäter

Was unsere Berichte aus den Vergangenen Jahren bereits zeigten, hat sich auch dieses Jahr wieder bestätigt: Ungarn und Polen bleiben unsere innergemeinschaftlichen Problemfälle. Obwohl die EU ihren neu geschaffenen Konditionalitätsmechanismus ausgelöst hat, um Ungarn Gelder vorzuenthalten, hat dies noch nicht zu echten Verbesserungen vor Ort geführt. Auch die Reformen, die mit Polen als Gegenleistung für die Freigabe von EU-Mitteln für die COVID-Wiederherstellung ausgehandelt werden, würden nur zu bescheidenen Verbesserungen führen und die polnischen Richter*innen nicht von der politischen Kontrolle befreien. Diese beiden Regierungen setzen weiterhin eine Reihe von Maßnahmen um, die darauf abzielen, die Macht zu zentralisieren, ihre Gegner zum Schweigen zu bringen, die öffentliche Meinung zu kontrollieren und um jeden Preis zu verhindern, zukünftige Wahlen zu verlieren.


Auch wenn es noch zu früh ist, um darüber zu urteilen, deuten die ersten Anzeichen darauf hin, dass die neuen Regierungen, die 2022 in Italien und Schweden gebildet wurden, das Risiko bergen, dass sich die Regierungskoalitionen dem Autoritarismus zuwenden könnten, wenn die bestehenden institutionellen Kontrollmechanismen nicht stark genug sind. Dafür spricht zum Beispiel, dass die rhetorischen Angriffe gegen NGOs und Medien von Seiten dieser beiden neuen Regierungen bereits stark zugenommen haben.

Im Gegensatz dazu zeigen die Entwicklungen in Slowenien seit der Ablösung der rechtsextremen Regierung, dass Länder ihre Demokratien rehabilitieren können. Wir haben zum Beispiel beobachten können, dass Schritte zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit von Institutionen, beispielsweise dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, unternommen wurden, außerdem wurden Entschädigungen an Bürgerinnen und Bürger, die unter der vorherigen rechtsextremen Regierung wegen Protesten rechtswidrig zu Geldstrafen verurteilt wurden, ausgezahlt.

Allgemeine Trends

Im Vergleich zu den Vorjahren werden weiterhin Probleme mit der Pressefreiheit, dem Demonstrationsrecht oder dem Recht von Bürgerinnen und Bürgern sich in NGOs zu engagieren, sowie mit der generellen Bereitschaft der Regierungen, auf die Wünsche der Menschen zu hören, deutlich. Wir sehen auch, dass die Regeln und Institutionen, die sicherstellen sollen, dass die Regierungen unsere Ressourcen und Befugnisse zum Wohle der Allgemeinheit einsetzen, weiterhin nicht das Geld, die Befugnisse und die Unabhängigkeit haben, die sie brauchen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Und viele Regierungen greifen weiterhin Randgruppen an, oft um die Öffentlichkeit von ihrem eigenen Versagen abzulenken, die Probleme ihrer Bürgerinnen und Bürger zu lösen.

Um ein paar Beispiele zu nennen:

- Journalisten, die über Themen von öffentlichem Interesse, wie z. B. Korruption, berichten, wurden in Bulgarien, Kroatien, Ungarn, Italien, den Niederlanden und Polen durch Scheinklagen (Slapps) belästigt.

- Mehrere Länder sezten ihre Macht auch dazu ein, um das Recht auf Protest einzuschränken, vor allem in Bezug auf Menschen, die Maßnahmen gegen den Klimawandel fordern, zum Beispiel in Belgien, Estland, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden und Schweden. In einigen Fällen handelten die Behörden dabei auf der Grundlage von Befugnissen, die zur Bekämpfung der Pandemie geschaffen wurden und immer noch in Kraft sind.

- In Bulgarien, der Tschechischen Republik, Deutschland, Ungarn, Polen, der Slowakei und Spanien haben wir festgestellt, dass Politiker ein unangemessenes Mitspracherecht bei der Auswahl, Beförderung und Disziplinierung von Richtern haben. Außerdem haben wir festgestellt, dass die Regierungen von Belgien, Kroatien, Estland, Frankreich, Deutschland, Italien, Irland und Polen ihren Gerichtssystemen die Ressourcen vorenthalten haben, die sie brauchen, um Fälle innerhalb einer angemessenen Zeit zu entscheiden.

- In diesem Jahr haben wir fortgesetzte rhetorische Angriffe und oft restriktive und strafrechtliche Maßnahmen beobachtet: gegen Menschen mit Migrationshintergrund (in Kroatien, Estland, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, Irland, Litauen, Slowenien und Spanien), Angehörige ethnischer Minderheiten (Bulgarien, Frankreich, Schweden) und LGBTIQ-Personen (Tschechische Republik, Ungarn, Irland und Slowakei).

Unsere Empfehlungen an die EU

Je weniger Kontrolle die Bürgerinnen und Bürger über ihre Regierenden ausüben können, desto unwahrscheinlicher ist es, dass diese die Probleme lösen, die den Menschen am Herzen liegen, oder dass sie die Lösungen wählen, die unseren besten Interessen dienen. Wenn demokratische Regierungen nicht mehr liefern, was die Menschen brauchen, verlieren die Leute das Vertrauen in die Demokratie und wenden sich leider allzu oft autoritären Kräften zu. Die europäischen Regierungen sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie, wenn sie ihre Demokratien nicht pflegen, den Weg für extremistische Politiker*innen ebnen, die nicht zögern werden, das ganze System zu zerstören, wie wir es in Ungarn und Polen gesehen haben. Die Staats- und Regierungschefs von Ländern, die behaupten, die Demokratie zu unterstützen, sollten das System fördern, das ihnen die Macht sichert.

Deshalb geben wir der EU in unserem Bericht eine Reihe von Empfehlungen, wie sie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte in ihren Mitgliedsstaaten unterstützen und schützen kann. Kurz gesagt, fordern wir die EU auf:

  • den Konditionalitätsmechanismus in Bezug auf Polen zu aktivieren und den Betrag der ausgesetzten Mittel für Ungarn und Polen so hoch anzusetzen, dass echte Reformen gewährleistet sind.
  • die Berichterstattung über die Rechtsstaatlichkeit zu verbessern, indem sie den Umfang des Berichts auf Kontextfaktoren ausweitet, die sich auf den Zustand der Rechtsstaatlichkeit auswirken oder auf Probleme hindeuten, wie z.B. das Vorhandensein von systemischen Menschenrechtsproblemen.
  • die Überwachung von Fortschritten oder Rückschritten zu verbessern, indem der Jahresbericht der Kommission als Grundlage für einen strukturierten Dialog zwischen den Institutionen und den nationalen Regierungen genutzt wird, zu dem die nationalen Parlamente und die Zivilgesellschaft beitragen sollten.
  • alle verfügbaren Befugnisse zu nutzen, um Regierungen zu unterstützen bzw. sie unter Druck zu setzen, damit sie rechtsstaatliche Standards fördern und durchsetzen, einschließlich der Aussetzung von Mitteln für eine Regierung im Rahmen des Konditionalitätsmechanismus, der Bereitstellung von Mitteln zur Unterstützung von Journalismus und Zivilgesellschaft, von Vertragsverletzungsverfahren, des Verfahrens nach Artikel 7 und der Bereitstellung von Richtlinien.
  • dafür zu sorgen, dass Initiativen, die sich auf die Rechtsstaatlichkeit auswirken könnten, genutzt werden, um diese in vollem Umfang zu fördern, z. B. Maßnahmen und Gesetze zu den Themen Digitalisierung der Justiz, Desinformation, Medienfreiheit und SLAPPs
  • große Herausforderungen für die Legitimität und Glaubwürdigkeit der EU anzugehen, wie z.B. den Qatargate-Skandal

Über den Bericht

Dies ist unser vierter Jahresbericht über den Zustand von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechten in der EU. Der Bericht deckt 18 EU-Länder ab und ist die detaillierteste Analyse dieser Art, die von einem NRO-Netzwerk erstellt wurde. Der Bericht wurde von Liberties zusammen mit 45 Organisationen aus ganz Europa erstellt: eine Kombination aus unseren eigenen Mitgliedern und einer Reihe externer Partner. Wie in den vergangenen Jahren dient die Veröffentlichung zwei Zielen: als Informationsquelle, die wir der Europäischen Kommission für ihre jährliche Prüfung der Rechtsstaatlichkeit in der EU zur Verfügung stellen, und als Quelle unabhängiger Analysen für Journalisten, Wissenschaftler und andere, die sich für den Zustand der Demokratie in der EU interessieren.

Ressourcen

Lade den vollständigen Bericht hier herunter.


Weitere Artikel zum Thema:

Governments Continue Weakening Democracy: EU Rule of Law Report By 45 NGOs

Civil Society in 2023: NGOs Still Left Out in the Cold


Länderberichte 2023

Der Bericht stellt die Ergebnisse von 45 Menschenrechtsorganisationen aus 18 EU-Mitgliedstaaten vor, diese sind:

  • League of Human Rights (Belgien),
  • Bulgarian Helsinki Committee (Bulgarien),
  • Centre for Peace Studies (Kroatien),
  • League of Human Rights, Glopolis (Tschechische Republik),
  • Human Rights Center (Estland),
  • Vox Public (Frankreich),
  • the Society for Civil Rights, FragDenStaat, LobbyControl (Deutschland),
  • the Hungarian Civil Liberties Union (Ungarn),
  • the Irish Council for Civil Liberties, Irish Congress of Trade Unions, Trinity College Dublin School of Law, The Immigrant Council of Ireland, Inclusion Ireland, Intersex Ireland, Community Law and Mediation, Justice for Shane, Mercy Law Resource Centre, Irish Penal Reform Trust, The National Union of Journalists, Age Action Ireland, The Irish Network Against Racism, Outhouse, Irish Traveller Movement, Pavee Point, FLAC-Free Legal Advice Centres, Mental Health Reform (Irland),
  • Antigone Association, Italian Coalition for Civil Liberties and Rights (CILD), A Buon Diritto Onlus, Association for Juridical Studies on Immigration or ASGI,Osservatorio Balcani e Caucaso Transeuropa (OBCT) (Italien),
  • Human Rights Monitoring Institute (Litauen),
  • Netherlands Helsinki Committee, Free Press Unlimited, Transparency International Nederlands (Niederlande),
  • the Helsinki Foundation for Human Rights (Polen),
  • Apador-CH (Rumänien),
  • Via Iuris (Slowenien),
  • Peace Institute (Slowenien),
  • Rights International Spain (Spanien),
  • Civil Rights Defenders, International Commission of Jurists (Schweden).

Die vorherigen Jahresberichte zur Rechtsstaatlichkeit:

2022 2021 2020

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