Demokratie & Gerechtigkeit

Dritter Jahresbericht der EU-Kommission über die Rechtsstaatlichkeit: besser, aber noch nicht gut genug

Der dritte Jahresbericht der EU-Kommission über die Rechtsstaatlichkeit wurde gerade veröffentlicht. Positiv zu bewerten ist die Aufnahme von Länderempfehlungen, allerdings darf die EU nicht vor konkreten Maßnahmen zurückschrecken.

by LibertiesEU

Nach mehrmonatigen Länderbesuchen zur Überprüfung der einzelnen EU-Mitgliedstaaten hat die Europäische Kommission jetzt ihren dritten Jahresbericht über die Rechtsstaatlichkeit veröffentlicht. Der Bericht ist eine Bewertung des Zustands der Demokratie in jedem Mitgliedstaat und gibt einen Überblick über die Situation der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union.

Anfang 2022 legte Liberties' gemeinsam mit unseren Mitglieds- und Partnerorganisationen einen eigenen Schattenbericht zur Rechtsstaatlichkeit vor, der den Zustand der Rechtsstaatlichkeit aus der Sicht von Menschenrechtsorganisationen betrachtet und eine Reihe von Empfehlungen an die EU-Regierungen und die Europäische Kommission enthält, wie Defizite behoben und die jährliche Prüfung der Rechtsstaatlichkeit produktiver genutzt werden kann.

Die jüngste Ausgabe des Kommissionsberichts spiegelt viele unserer Bedenken wider und zeigt, dass sich die Kommission ernsthaft bemüht, die Prüfung aussagekräftiger zu gestalten. Es bleibt jedoch noch Raum für Verbesserungen.

Eine gute Basis, auf der man aufbauen kann

Positiv zu vermerken ist, dass der Bericht zum ersten Mal länderspezifische Empfehlungen enthält, die den EU-Regierungen Hinweise geben, wie sie die festgestellten Probleme angehen können. Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung, die den langjährigen Forderungen von Menschenrechtsgruppen, darunter auch Liberties, entspricht und den Mehrwert sowie die Auswirkungen des Berichts steigert.

Inhaltlich trifft der Bericht der Kommission den Nagel auf den Kopf, insbesondere was einige wichtige Trends angeht, die auch im Schattenbericht von Liberties hervorgehoben wurden: der Druck auf die Unabhängigkeit der Justiz, der nach wie vor ein weit verbreitetes Problem darstellt; die Situation der Medienfreiheit und des zivilgesellschaftlichen Raums in der EU, die sich insgesamt als noch besorgniserregender als im letzten Jahr herausstellte - und die Dringlichkeit, die Kontrolle und das Gegensteuern angesichts übergriffiger Strafverfolgungspraktiken zu stärken. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass die die Kommission neuen Themen, wie dem Einsatz von Spähsoftware, ihre Aufmerksamkeit widmet.

Auch die stärkere Berücksichtigung des Zustands des Menschenrechtsschutzes in den EU-Ländern stellt eine begrüßenswerte Entwicklung des Kommissionsansatzes dar, denn die Kommission hat zum ersten Mal den Grad der Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Indikator für Rechtsstaatlichkeit herangezogen und den Rahmenbedingungen für nationale Menschenrechtsbeauftragte wie nationale Menschenrechtsinstitutionen und Ombudsstellen viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet.

Einige dem Ansatz der Kommission innewohnende Einschränkungen verhindern jedoch nach wie vor, dass diese Berichte einen ehrlichen und umfassenden Überblick über den Zustand der Demokratien in der Union bieten.

Es fehlt ein klarer Blick

Obwohl der Bericht der Kommission eine breitere Perspektive als in den Vorjahren aufweist, wirkt das Gesamtbild der demokratischen Bilanz der Länder in der EU und insbesondere die EU-weite Bilanz immer noch ziemlich verzerrt.

Reformbemühungen wird sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet, aber es wird nicht wirklich bewertet, welche Auswirkungen sie haben und ob sie tatsächlich in die richtige Richtung gehen.

Noch besorgniserregender ist, dass der Bericht immer noch keine kontextbezogene Analyse des Rückgangs der Rechtsstaatlichkeit enthält. Der Bericht hätte davon profitiert, wenn jenen Ländern, bei denen in allen Themenbereichen vorsätzliche Angriffe auf die Demokratie verzeichnet werden (namentlich Ungarn und Polen sowie in diesem Berichtszeitraum Slowenien), mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Darüber hinaus hätten die europaweiten Trends eines gravierenden demokratischen Rückschritts, insbesondere die besorgniserregende Verschlechterung des Arbeitsumfelds für Medien und Journalisten, vor allem in Bezug auf Angriffe und Verleumdungen, sowie die anhaltenden Bedrohungen, Angriffe und Einschränkungen für zivilgesellschaftliche Akteure eine viel gründlichere Analyse verdient.

Blinde Flecken

Bestimmte einschlägige Themen, die einer genaueren Prüfung bedurft hätten, wurden in dem Bericht nur sehr oberflächlich betrachtet.

Wie der Liberties-Bericht zur Rechtsstaatlichkeit aus dem Jahr 2022 zeigt, werden die COVID-19-Beschränkungen in den meisten EU-Ländern zwar allmählich aufgehoben, doch die Normalisierung der Notstandsregelungen und -befugnisse hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Kontrollmechanismen und Ausgewogenheit gehabt. Auch dieses Thema bleibt im Bericht der Kommission weitgehend unberücksichtigt.

Was Menschenrechtsfragen betrifft, die sich auf das Klima für die Rechtsstaatlichkeit auswirken, gibt es nach wie vor große Lücken, sowohl was das Ausmaß als auch die Art und Weise angeht, in der die Kommission über systemische Menschenrechtsverletzungen und die fehlende Rechenschaftspflicht berichtet. Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in Bereichen, die direkt in den Geltungsbereich der Berichterstattung fallen, werden nicht oder nur sehr unzureichend behandelt. Dies gilt zum Beispiel für Themen wie Strafjustiz, Rassismus in der Justiz, Rechenschaftspflicht der Strafverfolgungsbehörden und Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten wie Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Gleichzeitig werden die Rückschritte bei den Menschenrechtsstandards, die weit verbreiteten Verstöße und die Straflosigkeit in Bereichen, die nicht in den recht engen Rahmen des Kommissionsberichts fallen, nicht einmal berücksichtigt. Wie der Rechtsstaatlichkeitsbericht von Liberties aus dem Jahr 2022 gezeigt hat, sind solche Rückschritte und systematischen Verstöße, z. B. in Bezug auf rassistische Praktiken und Segregation, groß angelegte Datenschutzskandale, rückläufige Tendenzen bei sexuellen und reproduktiven Rechten und Straffreiheit für weit verbreitete Verstöße gegen die Rechte von Migrantinnen und Migranten, ein Schandfleck in der Bilanz der Rechtsstaatlichkeit vieler Mitgliedstaaten.

Pflege deine Beziehungen und binde die Öffentlichkeit ein

Wie bereits erwähnt, ist die Aufnahme länderspezifischer Empfehlungen durch die Kommission zwar ein Schritt in die richtige Richtung, um die Wirksamkeit der Berichte zu erhöhen, aber die Umsetzung, insbesondere in den Bereichen Identifizierung und Formulierung dieser Empfehlungen hätte von weiteren Expertenkonsultationen, einschließlich internationaler Überwachungsgremien und zivilgesellschaftlicher Gruppen, profitiert.

Die Kommission verdient durchaus Anerkennung für die konkret gemachten Fortschritte, die sie mit diesem Bericht gezeigt hat. Allerdings reichen diese Bemühungen nicht aus, um die immer wieder geäußerte Kritik zu entkräften, wonach die Rechtsstaatlichkeitsberichte der EU kaum mehr als ein Abhaken von Kästchen sind. Menschenrechtsgruppen sind entschlossen, mit der Kommission, den Mitgliedstaaten und anderen Akteuren auf EU- und auf nationaler Ebene zusammenzuarbeiten, um auf der Grundlage dieses Berichts echte Veränderungen zu erreichen und zusätzliche Wege zu finden, um die Wirkung dieses Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zum Nutzen unserer Demokratien zu verstärken. Allerdings wird der Erfolg davon abhängen, wie offen die EU ist und wie sehr sie sich bemüht, den Prozess auf ihrer Seite zu verbessern.

Wenn die EU nicht mit derRolle eines passiven Beobachters abgestempelt werden will, sollte sie eine proaktivere Haltung einnehmen, um auf die in den Kommissionsberichten aufgezeigten Defizite im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu reagieren. Die Kommission muss bei der Überwachung und Berichterstattung über die Umsetzung der Empfehlungen große Sorgfalt walten lassen, und dabei muss sie unbedingt auf Transparenz und Rechenschaftspflicht achten. Dazu gehört auch ein kritischer Bericht über die Anstrengungen, die die Kommission und andere EU-Institutionen, insbesondere der Rat, selbst unternommen haben, wenn sie die ihnen übertragenen Durchsetzungs- und Sanktionsbefugnissen angewandt haben. Wir haben bereits gesehen, wie der Mangel an Transparenz und Einbeziehung zu großer Enttäuschung über die Nützlichkeit anderer Überwachungsmaßnahmen geführt hat, insbesondere des Peer-Review-Dialogs zwischen den EU-Regierungen, der hinter verschlossenen Türen im Rat stattfindet. Zweitens sollten rasch konkrete Maßnahmen ergriffen werden, wenn die Regierungen keine ernsthaften Anstrengungen unternehmen, um schwerwiegende Mängel zu beheben. Dazu gehören Verstöße seitens der Kommission und die längst überfällige Aktivierung politischer Sanktionen durch den Rat gegen Regierungen, die in Ungarn und Polen nach wie vor den Abbau der Demokratie betreiben.

Außerdem sollte der Beitrag zivilgesellschaftlicher Akteure besser gewürdigt, unterstützt und genutzt werden. Menschenrechts- und andere zivilgesellschaftliche Gruppen sollten in allen Phasen des Prozesses eine bedeutendere Rolle spielen - von der Gestaltung und Durchführung der öffentlichen Konsultation, die in die Berichterstattung einfließt, über die Planung und Durchführung von Länderbesuchen, die Ausarbeitung des Berichts und seiner Empfehlungen bis hin zu den Folgegesprächen auf technischer und politischer Ebene, in Brüssel wie in den Hauptstädten. Es sollten spezielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, um die Bemühungen der Zivilgesellschaft zu unterstützen, sowohl bei der Erstellung des Berichts als auch bei der Durchführung von Folgemaßnahmen, einschließlich strategischer Rechtsstreitigkeiten, und bei der Förderung von Diskussionen, auf EU- und auf nationaler Ebene, über Trends im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und darüber, wie mit ihnen umgegangen werden soll.

Schließlich sollten mehr Investitionen getätigt werden, um das öffentliche Engagement für den Gesundheitszustand unserer Demokratien zu stärken und Unterstützung für die Bemühungen der EU, gutwilliger Regierungen und der Zivilgesellschaft zu sammeln, um die Mängel vor Ort zu beheben. Die Kommission könnte etwa damit beginnen, den Bericht für Nicht-Experten zugänglicher zu machen, indem sie sich um eine einfachere Sprache bemüht. Ein weiterer Schritt wäre, die Berichterstattung und die damit verbundene Kommunikation auf die Methode des value based framing zu stützen und benutzerfreundlichere Verbreitungsinstrumente zu entwickeln. Der Aufbau von Kapazitäten für Behörden und Interessengruppen, einschließlich der Zivilgesellschaft, zur Förderung positiver und progressiver Botschaften über die Bedeutung eines gesunden rechtsstaatlichen Umfelds für unsere Demokratien - etwas, womit sich Liberties intensiv beschäftigt - sollte ebenfalls besser unterstützt werden und zwar auch durch eine zielgerichtete Finanzierung.


Bildnachweis: Kindel Media/Pexel.com



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