Technologie & Rechte

Straßburger Gerichtshof bezeichnet Russlands Abhörgesetzgebung als „Schweizer Käse“

Auf Grund des geheimen Charakters der Überwachungsmaßnahmen und des Fehlens wirksamer Möglichkeiten, gegen sie auf nationaler Ebene zu klagen, entschied das Gericht, dass Kläger nicht nachweisen müssen, wo ihre Kommunikation konkret abgehört wird.

by PILP
(Image: Alex Naanou - Flickr/CC content)

Im Dezember letzten Jahres verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Russland für den „rechtlichen Schweizer Käse“ in seinen Rechtsvorschriften über die geheime Überwachung und das Abhören von Einzelpersonen. Einem russischer Verleger wurde eine Entschädigung in Höhe von 40.000 € gewährt.

In einer Zeit, in der die Regierungen bereit sind, den Nachrichtendiensten weitgehende Befugnisse einzuräumen, um alle möglichen Bedrohungen der nationalen Sicherheit abzuwehren, ist es wichtig, ständig die weitreichenden Eingriffe in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger, die sich daraus ergeben, im Blick zu behalten.

Es ist wichtig, dass solche Eingriffe bis zum Äußersten limitiert werden und, dass die Bürger gegen zufällige Eingriffe in ihr Privatleben durch die Behörden geschützt werden.

Zakharov v. Russland

Der Fall betrifft das System der geheimen Überwachung des Mobilfunkverkehrs in Russland. Roman Zakharov ist Chefredakteur eines Verlages und Nutzer der Dienste von verschiedenen Anbietern mobiler Kommunikationsnetzwerke.

Im Dezember 2003 strengte Zakharov ein Verfahren gegen drei Mobilfunk-Anbieter an. Er klagte vor einem Gericht in Sankt Petersburg gegen die Verletzung seines Rechts auf vertrauliche Telefongespräche.

Zakharov wies darauf hin, dass nach russischem Recht, speziell dem Ministerialerlass Nr. 70, Anbieter von Mobilfunknetzen dazu verpflichtet sind, Geräte zu installieren, die es den Sicherheitsdiensten erlauben, operative Suchaktivitäten durchzuführen.

Er behauptete auch, die Anbieter von Mobilfunknetzen hätten ohne richterliche Genehmigung den unbegrenzten Zugriff durch die Nachrichtendienste erlaubt.

Zakharov forderte das Gericht auf, die Entfernung des Geräts zu erzwingen, welches auf Grundlage des Ministerialerlasses Nr. 70 installiert wurde. Außerdem sollte sichergestellt werden, dass der Zugang zu den Mobilfunknetzen ausschließlich autorisiertem Personal gewährt wird.

Im Dezember 2005 wies das Gericht in Sankt Petersburg Zakharovs Klage in erster Instanz ab. Diese Entscheidung blieb gültig, nachdem das Oberste Gericht in Sankt Petersburg das Urteil im April 2006 bestätigte.

Under Russian law, mobile phone providers are obliged to install surveillance equipment in their products. (Alex Naanou - Flickr/CC content)

Am 20. Oktober 2006 legte Zakharov eine Beschwerde beim EGMR ein, in der er behauptet das System der geheimen Überwachung des Mobiltelefonverkehrs in Russland verletzte sein Recht auf Privatleben, welches durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt sei. Am 11. März 2014 leitete die Erste Kammer des Gerichts den Fall an die Große Kammer des Gerichts weiter.

Rechtsmittel

In ihrer Entscheidung hat die Große Kammer des EGMR zunächst festgestellt, dass die Behauptung des Klägers berechtigt war, er sei Opfer einer Verletzung der Europäischen Konvention geworden, auch wenn er nicht in der Lage war zu belegen, dass er das Ziel einer konkreten Überwachungsmaßnahme war.

Angesichts des geheimen Charakters der Überwachungsmaßnahmen, ihres breiten Umfangs (sie betreffen alle Mobilfunk-Nutzer) und des Fehlens wirksamer Mittel, um sie auf nationaler Ebene in Frage zu stellen, war das Gericht der Ansicht, dass der Kläger nicht beweisen muss, dass sein Telefon abgehört wurde.

Weil das nationale System über keinen effektiven Rechtsbehelf verfügt, der es Menschen, die den Verdacht haben, dass sie geheimer Überwachung unterliegen erlaubt, dagegen vorzugehen, wurde die umstrittene gesetzliche Regelung selbst als Eingriff in das Recht auf Privatsphäre des Klägers gewertet, welches als Menschenrecht durch Artikel 8 der Europäischen Konvention geschützt ist.

Alle Parteien waren sich einig, dass das Abhören mobiler Kommunikation im russischen Recht verankert ist, nämlich im Gesetz über die operativen Suchaktivitäten, im Strafgesetzbuch, im Kommunikations-Akt und in den Bestimmungen durch den Ministerialerlass Nr. 70.


The ECtHR concluded that Russian law was incapable of keeping the interception of communications to what was "necessary in a democratic society."
Es wurde nicht in Frage gestellt, dass das Abhören von Telefongesprächen rechtmäßige Ziele verfolgt, insbesondere den Schutz der nationalen und der öffentlichen Sicherheit, die Verhütung von Straftaten und den Schutz des wirtschaftlichen Wohlergehens des Landes.

Voraussetzung der Erforderlichkeit

Der EGMR urteilte, dass im Rahmen der Überwachung der Kommunikation die Forderung nach einem Rechtsrahmen bedeute, dass es eine inländische Rechtsgrundlage geben müsse, welche die Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit zu erfüllen in der Lage sei.

Daher müsse das Gesetz gewisse Qualitätsstandards erfüllen. Das Gericht war der Auffassung, dass in Fällen von sich widersprechenden Rechtsvorschriften über die geheime Überwachung, die Rechtsgrundlage der Verletzung eines Grundrechts eng mit der Frage verbunden ist, ob die Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.

Aus diesem Grund untersucht das Gericht gleichzeitig die Forderung nach einer Rechtsgrundlage und die Kriterien der Notwendigkeit. Die Anforderungen an die Qualität des Gesetzes bedeutet nicht nur, dass nationales Recht in seiner Anwendung zugänglich und vorhersehbar sein muss, sondern auch, dass die geheimen Überwachungsmaßnahmen in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig angewendet werden müssen, insbesondere durch das Vorhandensein angemessener und wirksamer Garantien gegen Missbrauch.

Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, dass der russische Rechtsrahmen für das Abhören von Telefonverbindungen keinen ausreichenden oder wirksamen Schutz vor Missbrauch bietet.

Insbesondere stellte das Gericht Mängel in den folgenden Bereichen fest:

  • die Umstände, unter denen die Behörden befugt sind, auf geheime Überwachungsmaßnahmen zurückzugreifen;
  • die Dauer der geheimen Überwachungsmaßnahmen;
  • die Verfahren für die Zerstörung und das Speichern abgefangener Daten;
  • die Verfahren für die Genehmigung von Abhörmaßnahmen;
  • die Aufsicht über das Abhören und die Benachrichtigung darüber;
  • die Wirksamkeit der zur Verfügung stehenden Rechtsmittel

Das Gericht hat festgestellt, dass das russische Recht die Anforderungen an die "Qualität des Gesetzes" nicht erfüllen kann und nicht in der Lage ist, das Ausmaß der Überwachung der Kommunikation auf das zu beschränken, was "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist". Dementsprechend wurdeeine Verletzung von Artikel 8 der Konvention festgestellt.

Lies das Urteil und die Pressemitteilung des EGMR.

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