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Dr. Jekyll und Mr. Hyde: Die Schizophrenie der Debatte um das Burkaverbot

Frau Dr. Eugenia Relaño, Expertin für Menschenrechte und Religionsfreiheit, analysiert juristische Präzedenzfälle in Bezug auf ein Verbot der Vollverschleierung.

by Rights International Spain
Photo: Jo Christian Oterhals - Flickr/CC content

Vor einigen Monaten hat die Organisation Rights International Spain eine detaillierte Analyse des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall S.A.S. gegen Frankreich veröffentlicht. Die von Frau Dr. Eugenia Relaño, einer Expertin für Menschenrechte und Religionsfreiheit durchgeführte Analyse, ist Teil der von RIS veröffentlichten und von externen Experten verfassten Artikelserie „Rechtliche Debatten“.

Im vorliegenden Fall hat das Gericht entschieden, dass das absolute Verbot des Tragens einer Vollverschleierung an öffentlichen Orten nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Die holländische Regierung erwägt, ein ähnliches Verbot zu erlassen und auch in weiteren Fällen wird das Urteil des EGMR herangezogen, um ähnliche Maßnahmen zu rechtfertigen. In Anbetracht der Tatsache also, dass die Debatte über Burka und Verschleierung in ganz Europa wieder aufgeflammt ist, haben wir uns entschieden, hier einen Ausschnitt des obengenannten Artikels zu veröffentlichen, in welchem die Autorin im Anschluss an die Analyse der Argumente des Gerichts ihre eigenen Schlussfolgerungen darlegt.

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Der Urteilsbegründung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall S.A.S. gegen Frankreich, an öffentlichen Orten ein Verbot der Vollverschleierung zuzulassen, mangelt es an Konsistenz und sie zeugt von groben und oberflächlichen Vorurteilen. Der Mangel an einer soliden legalen Begründung wird durch emotionale Appelle, die durch die Medien noch verstärkt wurden, ersetzt. Das Ziel eines Rechtssystems ist es, rechtliche Unsicherheit zu eliminieren und aufzudecken, wenn Willkürlichkeit bei der Ausübung der Rechtsprechung vorherrscht, oder genauer, wenn es wie in diesem Fall um die Einschränkung der Ausübung von Rechten geht. Die rechtliche und die praktische Machbarkeit eines generellen Verschleierungsverbots an öffentlichen Orten muss in Frage gestellt werden, und zwar vor allem, weil es unnötig ist: Es gibt bereits spezielle Verbote, die völlig ausreichen, um einen grundlegenden Schutz öffentlicher Sicherheit und gesellschaftlicher Ordnung zu garantieren.

Wir müssen wieder und wieder darauf beharren, dass Empörung, Unverständnis oder ein generelles Unwohlsein im Zusammenhang mit gewissen Praktiken, keine ausreichenden Begründungen für die Beschränkung von Grundrechten sind. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dargelegt hat, kann die freie Meinungsäußerung nicht nach dem Diktat der öffentlichen Meinung beschnitten werden, ansonsten würde die geringste Verstörung ausreichen, um sowohl das Recht auf freie Meinungsäußerung als auch die Versammlungsfreiheit auszuhebeln. Ein grundlegendes Element der Theorie der Menschenrechte ist der Begriff der Angemessenheit. Eine „zwingende soziale Notwendigkeit“ als Begründung eines Rechtes darf nicht auf juristisch indeterminierten Begriffen, wie etwa „dem Zusammenleben“, beruhen.

Es fällt auf, dass das Gericht von vornherein davon ausgeht, dass das Französische Gesetz ein legitimes Ziel verfolgt: den Schutz der Rechte von Anderen, speziell die Herstellung von Bedingungen für ein „Zusammenleben“ von Individuen. Wenn wir dieses Argument zulassen, erhalten wir ein neues meta-legales Konzept – „Das Zusammenleben“ – und damit eine Art Moral, die zur Auferlegung einer, aus dem Empfinden der gesellschaftlichen Mehrheit begründeten, öffentlichen Korrektheit führt und Einschränkungen der gesamten Bandbreite individueller Freiheitsrechte erlaubt.

Das bedeutet eine gefährliche totalitäre Wendung und darüber hinaus ein unrechtmäßiges Eindringen des Staates in die Definition menschlicher Würde, einem ganz und gar persönlichen und nicht übertragbaren Akt, der jedem Individuum eigen ist. Von einem rechtlichen Standpunkt aus betrachtet, kann Würde nicht externalisiert und in eine öffentliche Ethik des „Zusammenlebens“ umgewandelt werden, um Einzelne vor ihrer eigenen Würde und vor der Ausübung ihrer eigenen Rechte und Freiheiten zu schützen. Das ist rechtlich unhaltbar und somit letztlich ein Instrument der Unterdrückung.

Im Fall S.A.S. gegen Frankreich hat der EGMR einen ungesunden rechtlichen Aktivismus an den Tag gelegt, indem er ein generelles Verbot mittels angenommener Voraussetzungen des „Zusammenlebens“ rechtfertigt. Eine Rechtfertigung, die zwar die Unterstützung der gesellschaftlichen Mehrheit haben mag, nichtsdestotrotz aber rechtlich betrachtet auf äußerst wackeligen Füßen steht. Die Einschränkung von Grundrechten muss qua Definition räumlich und zeitlich den speziellen Umständen angepasst sein. Ein generelles Verbot ist also keine Einschränkung aufgrund besonderer Umstände sondern lediglich ein Verbot der Ausübung verschiedener Freiheiten. Bedauerlicherweise hat der EGMR in diesem Fall seine eigenen Präzedenzfälle missachtet. In dem Fall Eweida et al. Gegen das Vereinigte Königreich hatte das Gericht entschieden, dass das Recht seine eigene Religion auszuüben, ein Grundrecht ist, einerseits weil eine gesunde demokratische Gesellschaft in der Lage sein muss, Pluralismus und Diversität zu tolerieren, aber eben auch, weil Einzelne, die die Religion zum zentralen Bestandteil ihres Lebens gemacht haben, dass Recht haben müssen, ihre Überzeugung anderen mitzuteilen.

Thomas Hammarberg, der frühere Kommissar für Menschenrechte des Europarats drückt es so aus: „Die Tatsache, dass sich die öffentliche Debatte in einer ganzen Reihe europäischer Länder beinahe exklusiv auf etwas, das als muslimische Kleidung wahrgenommen wird, konzentriert, hat den Eindruck entstehen lassen, man bekämpfe eine bestimmte Religion. Ein Teil der Argumente war eindeutig islamophob, sie haben jedenfalls sicherlich keine Brücken gebaut oder zum Dialog angeregt.“

Das angebliche Interesse der gesellschaftlichen Mehrheit trägt so nicht nur dazu bei, diese Frauen in eine schizophrene Situation zu bringen, indem sie gezwungen werden, zuhause zu bleiben, als wären sie „Mr. Hyde“, sondern gleichzeitig wird auch noch der Begriff eines auf „öffentlicher Moral“ basierenden „Zusammenlebens“ herausposaunt, als käme er direkt von einem „Dr. Jekyll“, der verklemmt seine Widersprüchlichkeit und seine Ängste versteckt.

Die Auswirkungen dieses Verbotes betreffen überproportional häufig eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, nämlich muslimische Frauen. Das stellt eine eklatante Verletzung des Prinzips der Vermeidung jeglicher Diskriminierung auf Grund von Überzeugung, Religion und Geschlecht.

Es wurde nicht hinreichend dargelegt, warum diese Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit notwendig sein sollen. Im Gegenteil, dieses Verbot hat gezeigt, wie einfach es für uns ist, Recht und Gesetz im Sinne einer Kultur der Angst zu beugen, indem wir Vermutungen und Vorurteile in eine pseudo-juristische Sprache verpacken. Das Ergebnis ist äußerst gefährlich für eine pluralistische und gesunde Demokratie.

Den ganzen (spanischen) Text dieser Rechtsdebatte finden sie hier.

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